Zivilgesellschaft

Zivilgesellschaft
Bürgergesellschaft

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Zi|vil|ge|sell|schaft 〈[ -vi:l-] f. 20; unz.; Pol.; Soziol.〉
1. 〈urspr.〉 demokratisch organisierte Gesellschaft, die von den Bürgern selbst regiert wird (im Gegensatz zur Monarchie, Diktatur od. Militärherrschaft)
2. Gesamtheit aller nichtstaatlichen Organisationen, in denen die Bürger aktiv mitwirken u. Einfluss nehmen

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Zi|vil|ge|sell|schaft, die (Politik, Soziol.):
Gesellschaftsform, die durch selbstständige, politisch u. sozial engagierte Bürger[innen] geprägt ist.

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Zivilgesellschaft,
 
im Allgemeinen mit »Bürgergesellschaft« gleichbedeutend gebrauchter Begriff, der in den 1990er-Jahren Eingang in die politischen und sozialpolitischen Diskussionen gefunden hat und darüber hinaus auch in gegenwartsdiagnostischen und kulturkritischen Zusammenhängen eine Rolle spielt. Dabei hängen Konjunktur und Unschärfe des Begriffs offensichtlich zusammen, sodass sich eine Kernbedeutung nur in einer ziemlichen Allgemeinheit ausmachen lässt. Unter der Perspektive der Zivilgesellschaft erscheinen die Handlungs- und Verhaltensmuster von Individuen und Gruppen, die in modernen, funktionsdifferenzierten Gesellschaften gemeinhin als soziale oder private Formen des menschlichen Zusammenlebens wahrgenommen und gegenüber spezifisch »politischen« Verhaltensmustern (Wahlbeteiligung, Übernahme politischer Ämter, Mitgliedschaft in politischen Parteien, Wahrnehmung politischer Rechte und Funktionen) abgehoben werden, als eigenständige und in diesem Sinne dann auch politische Beiträge, in denen die Bürger einer Gesellschaft ihr Zusammenleben gestalten, aber auch gefährden und zerstören können. Gegenüber der Vorstellung, dass der Staat die Bürger in ihren politischen Rollen definiert und diese als Staatsbürger wiederum die Politik bestimmen, legt Zivilgesellschaft die Betonung gerade auf das gesellschaftliche Handeln der Menschen, die in ihrem Handeln als Individuen und Privatpersonen auftreten und damit zugleich aber in einem politischen Sinne, also im Hinblick auf die Grundlagen, die Gestaltung, die Zielsetzung und die Konflikte, ihre Gesellschaft beeinflussen beziehungsweise definieren. »Am Anfang der Bürgergesellschaft steht also nicht der Staat oder die Wirtschaft, sondern das Individuum in seinen sozialen Bezügen« (Warnfried Dettling).
 
 Dimensionen des Begriffs Zivilgesellschaft
 
In diesem Sinne unterscheidet der kanadische Philosoph Charles M. Taylor drei Dimensionen der Zivilgesellschaft: 1) Zivilgesellschaft entsteht beziehungsweise besteht dort, wo freie Vereinbarungen gelten, die nicht durch die Staatsmacht konstituiert beziehungsweise kontrolliert werden. 2) Zivilgesellschaft gibt es dort, wo das gesellschaftliche Leben von Vereinigungen strukturiert wird beziehungsweise werden kann, die nicht von der Macht des Staates abhängen beziehungsweise von ihr bevormundet werden. 3) Dort, wo solche nichtstaatlichen Organisationen das Zusammenleben einer Gesellschaft bestimmen beziehungsweise entscheidend mitgestalten können, lässt sich von einer Zivilgesellschaft reden.
 
Mit »Zivilgesellschaft«, so der US-amerikanische Sozialphilosoph M. Walzer, treten die Räume menschlichen Zusammenlebens und menschlichen Handelns in den Blick, die auf der Basis von Selbstorganisation oder wie in der Familie und Verwandtschaft als vorstaatliche Gemeinschaften von Individuen und Gruppen selbst gestaltet und verwaltet werden. In allen diesen Versuchen einer Bestimmung bleibt freilich - möglicherweise als Bedingung des Erfolgs für dieses Konzept - die Unschärfe erhalten, die darin besteht, dass zivile Gesellschaften entweder als soziologisch-empirisches Phänomen konzipiert werden, welches in Vereinen, politischen Assoziationen, Laienorganisationen, sozialen Bewegungen, Netzwerken, Selbsthilfepotenzialen, Nachbarschaftskontakten, im »Dritten Sektor« u. a. greifbar wird. Oder die zivile Gesellschaft wird als utopisches Ideal verstanden, als »regulative Idee, deren reine Normativität den korrupten Alltag kritisch beleuchtet« (Helmut Dubiel, * 1946). Damit wird aber auch erkennbar, dass es für diesen Begriff keine endgültige Definition geben kann, dass seine Bedeutung sich vielmehr durch die jeweiligen Bezugsbereiche, Handlungszusammenhänge und die politisch-sozialen Konstellationen bestimmen lässt, in denen er benutzt wird. Dies belegt auch die Wortgeschichte, die zwar den Bestand des Wortes über Jahrhunderte hinweg zeigen kann, zugleich aber auch deutliche Veränderungen im Bedeutungsbereich erkennen lässt, die sich auf gewandelte Grundlagen und Rahmenbedingungen zurückführen lassen.
 
 
In seinem heutigen Verständnis als Organisation eines Gemeinwesens durch das gemeinsame Handeln von Individuen geht der Begriff historisch auf die Anfänge der bürgerlichen Sozialtheorie im 18. Jahrhundert, auf A. Ferguson zurück, dessen Entwurf einer an historischem Fortschritt, Rechtsordnung und privatwirtschaftlichem Handeln (»Besitzindividualismus«) orientierten Geschichte der Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung (»A history of civil society«, 1767) sowohl auf A. Smith und die übrige schottische Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts als auch auf die Väter der US-amerikanischen Verfassung und den nachmaligen Liberalismus, im Besonderen auf A. de Tocqueville, großen Einfluss ausübte.
 
In der Bedeutung als Zusammenschluss von Individuen, der darauf aufbaut, dass die Individuen ihre Besonderheiten gerade behalten, sich also nicht zu homogenen Mitgliedern einer Gemeinschaft verformen lassen, fand der Begriff dann in seiner Übersetzung als »bürgerliche Gesellschaft« Eingang in die deutsche politische Diskussion um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, von politischer Macht und gesellschaftlicher Entwicklung im 19. Jahrhundert, so mit teilweise sehr unterschiedlichen Akzenten bei G. W. F. Hegel, W. H. Riehl, aber auch bei K. Marx und L. von Stein.
 
Für das heutige Verständnis ist aber auch noch eine ältere Wurzel des Begriffs und seines Vorstellungsbereichs wichtig. Bei Aristoteles bezeichnet »koinonía politikè« (lateinisch »societas civilis«) eine herrschaftsfreie Assoziation von Gleichgesinnten. So sehr naheliegend diese Bestimmung auf die vor- und subpolitische Dimension des heutigen Bedeutungsfeldes verweist, so deutlich müssen doch auch Unterschiede hervorgehoben werden: Zunächst handelt es sich bei der von Aristoteles ausgezeichneten Gemeinschaft um männliche Besitzbürger (»Haushaltsvorstände«), ein Faktum, das angesichts des Ausschlusses von Frauen, Sklaven und sonstigen Abhängigen dem in der modernen bürgerlichen Gesellschaft mitgedachten Grundsatz einer politischen Gleichstellung aller Erwachsenen, unabhängig von Geschlecht, Schichtung und Stellung, völlig widerspricht. Zum Zweiten stellt »Gesellschaft« bei Aristoteles eine politisch gestaltete, geeinte Formation dar; dies entspricht nicht dem Verständnis der europäischen Diskussion, die zwar bis ins 18. Jahrhundert die von Aristoteles geprägte Formel »civitas sive societas civilis sive res publica« (»die Bürgergesellschaft, sei sie als Bürgergemeinschaft gesehen oder als Staat«) übernahm, zugleich aber ihre Vorstellungen von Politik und Gesellschaft an der Differenzierung von Gesellschaft und Staat entwickelte und bis ins 20. Jahrhundert hinein zuspitzte.
 
In diesem Sinne ist die Wiederaufnahme der älteren, beide Gestaltungsformen ineinander begründenden Sichtweise mit der aktuellen Diskussion um die Zivilgesellschaft verbunden. Für die neuere Entwicklung und nach der Erfahrung der verschiedenen Modelle totalitärer Herrschaft im 20. Jahrhundert, die darauf hinarbeiteten, die Gesellschaft politisch zu durchsetzen und damit als eigenständiges Handlungsfeld zum Verschwinden zu bringen, stellt Hegels Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft als »Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt« (Philosophie des Rechts, § 182, Zusatz), auch für die gegenwärtig aktuelle Debatte den Bezugspunkt dar. Denn diese Differenz ist für Hegel gleichzeitig der Raum, in dem sich die individuellen Ansprüche, etwas Besonderes zu sein, mit den nämlichen Ansprüchen aller anderen treffen und organisieren können.
 
Im Anschluss an Hegel und im Zusammenhang der sich durchsetzenden Industriegesellschaft, die mit der ihr eigenen Dynamik die alten gesellschaftlichen Zuordnungen unterminierte und damit zugleich die Suche nach neuen politischen (Republik), ökonomischen (Marktwirtschaft) und sozialen Strukturierungsmöglichkeiten vorantrieb, entwickelten sich neue Modelle, die vom sozialen Kaisertum eines L. von Stein oder F. Lassalle bis zum Klassenkampf bei Marx und F. Engels und zur Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhangs in anarchistischen Modellen der Frühsozialisten beziehungsweise in reaktionären Träumen von herkömmlichen Stammes- und Dorfgemeinschaften reichten. Noch die Differenzierungsversuche der Soziologie der Jahrhundertwende 1900, etwa die Differenzierung »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« bei F. Tönnies und die umgekehrt ausgezeichnete Gegenüberstellung von »mechanischer«, also vormoderner, und »organischer«, moderner »Solidarität« bei É. Durkheim bearbeiten damit auch die Schnittstelle zwischen politischem System und Gesellschaft.
 
Während die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie oben erwähnt, weitgehend im Banne der totalitären Auflösung gesellschaftlicher Handlungsbereiche und deren Indienstnahme für politische Programme im Faschismus und im Staatskommunismus stand, sodass der Bereich des Gesellschaftlichen ganz der Privatsphäre beziehungsweise in den Avantgardebewegungen und in der linksliberalen Kulturkritik der 1920er-Jahre dem Bereich des Subversiven zugerechnet werden musste, kann die heutige Diskussion doch auch an eine zwar wenig beachtete, gleichwohl vorhandene Tradition »republikanischer« Vorstellungen einer eigenständigen politischen Sphäre im Handlungsbereich der Gesellschaft, wie sie in den Arbeiten von Otto Kirchheimer (* 1905, ✝ 1965) oder T. Geiger angesprochen waren, anknüpfen. Die Wiederaufnahme dieser Diskussion verdankt sich freilich aktuellen Impulsen der jüngsten Geschichte.
 
 Die aktuelle Bedeutung der Zivilgesellschaft
 
In seiner heutigen Bedeutung als Assoziation selbstständiger, politisch und sozial engagierter Bürger knüpft der Begriff Zivilgesellschaft durchaus an diese älteren Zusammenhänge an; seine aktuelle Gestalt gewinnt er jedoch aus den in den letzten Jahrzehnten entwickelten Ansätzen, die darauf zielen, das Feld gesellschaftlichen Handelns in seiner Eigenständigkeit einerseits gegenüber Politik und Staat, die sowohl im konservativen und autoritären Denken als auch in der staatssozialistischen Tradition den Vorrang hatten, andererseits gegenüber der politischen Dominanz der Wirtschaft beziehungsweise der Begründung von Politik einzig im individuellen Interessenegoismus (liberale Tradition) abzusetzen und politisch neu zu konstituieren.
 
Die damit genannte Bandbreite in den Erfahrungen reicht von der Abwehr staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger, gegen die sich in Mittelosteuropa in den 1970er-Jahren Bürgerrechtsbewegungen (so die Charta 77 in der Tschechoslowakei, die Dissidenten um A. Sacharow in der UdSSR und die polnische Bürgerrechtsbewegung KOR) wandten, bis hin zu liberalen und konservativ-christlichen Impulsen, die in den USA und Westeuropa im Appell an die Zivilgesellschaft den Versuch unternahmen, Verantwortungsbewusstsein und Engagement im kommunalen Nahbereich und in bestimmten gesellschaftlichen Handlungsräumen zu wecken beziehungsweise zu stärken, die wie etwa Kinderbetreuung, Altenpflege oder Jugendarbeit, aber auch die Reinigung von Parks und Straßen, von staatlicher Seite allein nicht mehr bewältigbar erschienen. So treten unter der Perspektive der Zivilgesellschaft Kultur und Lebenswelt, Alltagsorientierungen, Lebensstile und die Assoziationen der Privatleute mit ihren jeweiligen Teilöffentlichkeiten und Vergemeinschaftungsformen als eigenständige Sphären und Grundlagen politischen und sozialen Handelns zivilgesellschaftlicher Akteure in Erscheinung, die dann als Gegengewicht zu den etablierten Akteuren von Politik und Staat und den sie repräsentierenden Institutionen (Parteien, Verwaltung) einerseits, zur Wirtschaft und ihren Verbänden und Konzernen andererseits fungieren können. In politiktheoretischer Perspektive verknüpften sich Erwartungen an mehr Bürgernähe gegenüber den vergleichsweise abstrakten Arbeitsformen der Verwaltung mit basisdemokratischen Impulsen, die in den USA aus den Bürgerrechtsbewegungen (»grass-root democracy«) und in Westeuropa aus dem Umfeld der gesellschaftlichen Umbrüche von 1968 (»mehr Demokratie wagen«) sowie der ökologischen Bewegung der 1970er-Jahre kamen.
 
Für die gegenwärtige Aktualität des Begriffs und der mit ihm verbundenen Hervorhebung von individualistisch motiviertem Bürgerhandeln lassen sich fünf unterschiedliche historische Erfahrungszusammenhänge benennen, die allesamt freilich darin übereinstimmen, dass sie - teilweise in analytisch-deskriptiver Weise, teilweise normativ - die Eigenaktivitäten der Bürger und ihre weder allein staatlich noch vor allem wirtschaftlich verfassten Zusammenschlüsse als eigenständige politische und soziale Kräfte in den Mittelpunkt der Diskussion um die Weiterentwicklung des westlich-liberalen Gesellschaftsmodells und seiner politischen Verfassung rücken.
 
Von ausschlaggebender Bedeutung für die Wiederaufnahme des Begriffs und der damit angesprochenen Vorstellungen waren zunächst die Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa, die das Konzept der Zivilgesellschaft in den 1980er-Jahren sowohl als Gegenentwurf zu den damals herrschenden staatssozialistischen Machtverhältnissen als auch als Grundlage der sich an die Überwindung des Staatssozialismus anschließenden Transformationsprozesse entwickelten; teilweise verbanden sich hier Abwehr (der staatlichen Eingriffe etwa in jugendkulturelle Erscheinungen, Zensur von Filmen) mit einer eigenständigen, im Wesentlichen auch kulturell getragenen Neubestimmung eines individualistisch getönten gesellschaftlichen Zusammenlebens (Underground-Literatur; Samisdat; in Polen der »zweite Umlauf«).
 
Von anderer Seite her hatte im gleichen Zeitraum eine undogmatische Linke in den westlichen Gesellschaften im Rückgriff auf das Modell der »società civile« des italienischen kommunistischen Theoretikers A. Gramsci, das dieser in den 1930er-Jahren in der Auseinandersetzung mit einem dogmatischen Marxismus und unter dem Eindruck der in Italien in dieser Zeit den Alltag dominierenden faschistischen Herrschaft entwickelt hatte, zurückgegriffen und damit die Bereiche der Kultur, der Lebens- und Alltagswelt und nicht zuletzt regionale Kulturen als Ansatzpunkte gesellschaftskritischer Politik und Praxis entdeckt. Dieser Gesichtspunkt verband sich dann im Zuge der ebenfalls zum Teil regionalistisch bestimmten Anti-Atomkraft-Bewegung und der Friedensbewegung mit Ansätzen zur Formierung und Erforschung der so genannten neuen sozialen Bewegungen, als die in den 1970er-Jahren in Westeuropa die neue Frauenbewegung, die Ökologiebewegung, die Schwulenbewegung und die Protestaktionen gegen atomare Hochrüstung sowie die »Dritte-Welt-Bewegung« angesprochen werden konnten; in der hier vorgestellten Perspektive konnten sie als Erscheinungsformen und Akteure der Zivilgesellschaft verstanden werden.
 
Ein weiterer Gesichtspunkt zur Wiederaufnahme der Vorstellungen von Zivilgesellschaft ergab sich aus dem Ansatz der politischen Kulturforschung (»civic society«), die nach den Erfahrungen totalitärer Herrschaft im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und aus der Situation der Ost-West-Systemkonkurrenz heraus seit den 1950er-Jahren Akzeptanz und Integrationsleistungen in westlichen Demokratien untersuchte. Angesichts der Suche nach neuen partizipativen Möglichkeiten in den westeuropäischen Gesellschaften, die durch einen in den 1960er-Jahren erstmals so in Erscheinung getretenen Wertewandel (Ronald Inglehart, * 1934) und eine zunehmende Pluralisierung von Lebensformen zusätzliche Anreize bekam, fand auch der Ansatz einer »civic culture« neue Aufmerksamkeit und stellte vor allem die unterhalb der traditionellen politischen Partizipationsformen bestehenden zivilgesellschaftlichen Handlungsmuster heraus.
 
Schließlich erhalten Begriff und Diskussion um das Konzept im Laufe der 1990er-Jahre maßgebliche Impulse aus den Debatten um die aus den USA kommende Sozialphilosophie des Kommunitarismus, also einer zwischen konservativen, liberalen und basisdemokratisch-sozialistischen Vorstellungen oszillierenden Strömung, die die Eigenverantwortlichkeit der Bürger, die Regelung gemeinschaftlicher Aufgaben vor Ort (zum Teil bis zur Abschaffung sozialstaatlicher Institutionen) und eine Dezentralisierung des politischen Lebens vertritt. Von hier aus bietet das Konzept der Zivilgesellschaft gegenwärtig vielfältige Ansatzpunkte, unter denen Neuansätze sozialpolitischer Fragestellungen - Eigenarbeit, Bürgerarbeit und Bürgergeld, Grundeinkommen, Ehrenamt - darüber hinaus aber auch grundlegende Fragen sozialer und politischer Verantwortung, Legitimation und Integration aus der Perspektive der nicht politisch verfassten Gesellschaft diskutiert werden können.
 
 Handlungsfelder und Perspektiven
 
Das Spannungsverhältnis zwischen normativer und deskriptiver Dimension der Zivilgesellschaft muss nicht als Unschärfe des Konzepts gewertet werden. Vielmehr kann diese Spannung auch so verstanden werden, dass sich die Zivilgesellschaft gerade als Verkörperung einer Spannung von empirisch Gegebenem und normativ Vorgestelltem bestimmen lässt (Dubiel); in der Konsequenz ließe sich Zivilgesellschaft als eine in mehrfacher Hinsicht begrenzte und vorläufige, damit aber lernfähige und gestaltbare Gesellschaft begreifen, der das Bewusstsein ihrer Unabschließbarkeit in dreierlei Hinsicht eigen ist: zum einen als zeitliche Begrenzung, was in der Konsequenz bedeutet, dass Ansprüche, die sich auf ewige Dauer berufen, abgewiesen werden müssen. Ebenso sind zweitens Ausschlusskriterien, die Menschen auf Dauer (etwa in der Verweigerung von Zuwanderung oder Bürgerrechten) ausschließen, mit dem Konzept der Zivilgesellschaft nicht zu vereinbaren. Drittens bedeutet dies, dass sich auch kein Thema oder Sachverhalt in der gesellschaftlichen Kommunikation normativ und »für immer« tabuisieren oder ausschließen lässt.
 
Nach diesem Verständnis kann Zivilgesellschaft als eine spezifisch moderne Form der Gesellschaft angesehen und die Unschärfe des Begriffs als eine Art »großer Schirm« (Dubiel) betrachtet werden, hinter dem sich die unterschiedlichsten Ansprüche - stets aber begrenzt, an der Reflexion auf die anderen Gesellschaftsmitglieder orientiert und unter Ausschließung von Gewalt - sammeln können. Von diesem Ansatz her bietet sich so eine Anschlussmöglichkeit an Theorien des Zivilisationsprozesses, der als Weg zunehmender Affektkontrolle (N. Elias) und Versachlichung (Max Weber) gesehen werden kann. Damit stellt Zivilgesellschaft schließlich einen Gegenentwurf zu den Formen unziviler Vergesellschaftung dar, als deren Ausprägungen Despotismus und Totalitarismus, Korruption, Ethnozentrismus und Barbarei bestimmt werden können.
 
Festzuhalten ist überdies, dass Zivilgesellschaft einen zeitlichen Rahmen braucht, über den nicht willkürlich verfügt werden kann: »Zivile Strukturen lassen sich in wenigen Tagen zerstören - ihre Rekonstruktion nimmt Jahrzehnte in Anspruch« (Dubiel). Ob und wie sich freilich Strukturen der Zivilgesellschaft mit und gegen Politik, Wirtschaft und globale Entwicklungen entwickeln und gestalten lassen können, hängt auch von eben diesen Faktoren und ihrer reflexiven oder dogmatischen Ausprägung ab. In dieser Hinsicht enthält Zivilgesellschaft auch die Vorstellung einer globalen Gesellschaftsordnung als Bürgergesellschaft, wobei wichtige Basisvoraussetzungen einer globalen Zivilgesellschaft (Sprachen, Ausbildung, Verschiebung von religiösen Bekenntnissen in die Privatsphäre, Funktionsdifferenzierung in der Arbeitswelt, im politischen System und in Verwaltungen, Angleichung des Lebensstandards, Pluralisierung und Individualisierung) erst im Zuge der Entwicklung eben dieser Gesellschaftsform hervortreten können.
 
 
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Zi|vil|ge|sell|schaft, die (Politik, Soziol.): Gesellschaftsform, die durch selbstständige, politisch u. sozial engagierte Bürger[innen] geprägt ist: In dem Maße, wie die Erhebung in den besetzten Gebieten eine neue palästinensische civility schuf, wandelte sich die PLO zu einem politischen Ausdruck der palästinensischen Z. (Haarmann, Geschichte 604); ... demonstrierten in Paris weit über 100 000 wütende Franzosen ... Der Soziologe Alain Touraine ... stand mittendrin: »Wir erleben einen historischen Moment: Die Renaissance einer demokratischen Bewegung!«, jubelte er - gleichsam die Wiedergeburt der französischen Z. (Woche 7. 3. 97, 21).

Universal-Lexikon. 2012.

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